Das letzte Ereignis und gewissermaßen ein Höhepunkt im Waldorfschuljahr ist die Theateraufführung der 11. Klasse. Am Anfang des Schuljahres wird ein Stück ausgewählt, das dann am Ende der 11. Klasse vor einem größeren Publikum in drei Aufführungen präsentiert wird.
In diesem Jahr haben sich Klasse und Regisseur für die Dramatisierung des letzten über 700-Seiten umfassenden Romans von Hans Fallada (eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, so der Geburtsname) „Jeder stirbt für sich allein“ in einer von dem Regisseur und Autor Gerald Friese stark bearbeiteter Fassung entschieden. In diesem seinem letzten Roman schildert Hans Fallada den authentischen Fall des Ehepaars Otto und Elise Hampel, das Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte und daraufhin denunziert und hingerichtet worden war. Deshalb wurde das Stück auch in „Eine Postkarte für den Widerstand“ umbenannt.
Das Werk erschien 1947 erstmals als gekürzte und redaktionell stark bearbeitete Version. In dieser Form wurde der Roman über 60 Jahre immer wieder neu aufgelegt. Ab 2009 folgten eine Reihe von Übersetzungen, die auf Falladas ursprünglicher langen Fassung (709 Seiten) beruhten. Der Roman wurde mehrfach verfilmt. Mehrere Bearbeitungen wurden am Theater aufgeführt, so in Hamburg, Dresden und Berlin. Aus diesem Stoff, aus Vorlagen verschiedener Dramatisierungen und anderer Quellen hat Regisseur & Autor Gerald Friese eine für dieses Ensemble spielbare Fassung erstellt.
Erweitert wurde diese um zwei Ebenen: Mit der Erzählerrolle in der Hans Fallada über sein Leben und die Schwierigkeiten beim Schreiben des Romans vor geschlossener Bühne berichtet (großartig verkörpert durch Maxim Wimmer) und eine Metaebene in einem fiktiven Sender in einem „Literarischen Oktett“ in dem Figuren aus dem deutschen Literaturleben über den Roman und seinen Autor philosophieren. Dies kann als Persiflage unseres Literaturbetriebs gesehen werden. Die dritte Ebene bilden die gespielten Szenen, in denen die Handlung des Romans in eindrücklichen Bildern dargestellt wird. Hier überzeugten die drei Hauptpersonen (Familie Hampel) dargestellt von Janos Hagenbuch, Samira Knapp und Chiara Konradt, als Verlobte des gefallenen Sohnes der Familie.
Die Geschichte spielt in Berlin im Jahre 1940. Es ist ein Feldpost-Brief, der Elise und Otto Hampel die traurige Nachricht bringt: Ihr einziger Sohn ist im Krieg gefallen. Die Eltern sind fassungslos. Ihnen wird klar: Adolf Hitler und sein Regime bringen nur Unheil, es darf nicht so weitergehen. Otto Hampel greift deshalb zu Tinte und Papier, schreibt eindringliche Warnungen. Heimlich verteilt er diese Postkarten im Berliner Stadtgebiet in den Häusern. Seine Frau begleitet ihn, unterstützt ihn. Es ist ein mutiges Unterfangen – leider ohne Happy End. Der Roman ist kein leichtes Lesevergnügen, aber ein unglaublich wertvolles. Es zeigt in aller Deutlichkeit, wie toxisch und voller Angst die Stimmung in der deutschen Bevölkerung war und wie jeder, der Zweifel an Hitler hatte, sich unentwegt in großer Lebensgefahr befand. Bereits im Vorwort schreibt Hans Fallada: “Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buch reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buch fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, (…) In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 ziemlich viel gestorben. (…) Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.“
Die Polizeiszenen werden durch Überzeichnung deshalb karikiert und wirkten dadurch irreal, obwohl sie zu jener Zeit Alltag waren.
Die Inszenierung reihte eine Perlenkette an vortrefflichen Bildern untermalt mit zeitgenössischer meist dissonanter Musik, die der Tragik des Stückes entsprach und zu einer bedrückenden Atmosphäre beitrug. Neben der Bühne wurden Schriftstücke, Dokumente und Buchtitel eingeblendet, die der Aufführung einen dokumentarischen Charakter verlieh, man sah sozusagen eine Docu-Fiction auf der Bühne, die von einer durchdachten Bühnentechnik (Marc Friedmann) unterstützt wurde.
Besonders hervorzuheben ist die schauspielerische Arbeit der 11. Klasse, die erst in der letzten Woche, in denen Intensivproben stattfinden konnten, sich exponentiell gesteigert hat, denn zwischendurch mussten die Realschüler auch noch ihre Prüfungen ablegen! Alle Achtung für diese Leistung! Das gute „Händchen“ für die Rollenverteilung und die intensive Arbeit am Text muss Regisseur Gerald Friese hoch angerechnet werden, denn nur durch ein Miteinander von Spielern und Spielleiter ist eine solche Aufführung möglich.
Der anschließende Applaus belohnte die Schüler und alle Mitwirkenden für die sehenswerte Leistung als Abschluss des Schuljahres.